Vom Pottwal über die Chemie zur Biotechnologie
Viele Rohstoffe sind in den letzten Jahren knapp geworden. Die Corona-Pandemie hat einige dieser Engpässe deutlich verschärft. Auch die Aroma- und Duftstoffindustrie ist davon betroffen. Die Bedenken der Kundinnen und Kunden in Bezug auf chemische Inhalte respektive die Nachfrage nach nachhaltigen Produkten stellt die Aroma- und Duftstoffindustrie vor besondere Herausforderungen.
Während der Pandemie kam es zu Engpässen bei Masken, Beatmungsgeräten und Arzneimitteln wie z. B. Entspannungsmedikamenten, die für die Intubation von Covid-Patientinnen und -Patienten benötigt werden. Die Pandemie war aber nicht die eigentliche Ursache, sondern nur ein Beschleuniger. Auch die Hersteller von Kunststoffprodukten aller Art gerieten in die Krise, darunter die Produzenten von Impfstoffen, die Behälter aus Kunststoff für ihre Herstellungsprozesse verwenden. Weiter wurden auf Baustellen Holz, Stahl oder Kupfer knapp. All diese Engpässe waren ein Thema in der Tagespresse und wurden von einem breiten Publikum wahrgenommen. Andere Verknappungen bleiben in einer breiten Öffentlichkeit unbemerkt, obwohl auch wichtige Schweizer Industriezweige betroffen sind.
Ein Beispiel dafür ist die Aromen- & Duftstoffindustrie mit einem weltweiten Umsatz von rund 30 Milliarden Schweizer Franken. Mit einem Drittel dominieren die beiden Schweizer Vorzeigeunternehmen Givaudan und Firmenich diesen Markt. Alle Rohstoffe für die Aromen- und Duftstoffindustrie mussten früher aus Pflanzen gewonnen werden, mit Ausnahme von Moschus, Ambergris und einigen anderen Rohstoffen, die tierischen Ursprungs sind. Ambergris ist eine Ausscheidung des Pottwals, welches durch oxidative Prozesse ein angenehmes Geruchsprofil entwickelt. Ambrox ist dabei die wichtigste Verbindung und gelegentlich teurer als Gold. Unnötig zu erwähnen ist, dass die natürliche Beschaffung bei einem geschätzten Jahresverbrauchs von 100 Tonnen unmöglich ist. Es erstaunt daher nicht, dass die Aroma- und Duftstoffindustrie seit fast 100 Jahren auf die organisch-chemische Synthese setzt. Heutzutage werden die meisten Moleküle chemisch synthetisiert und weniger als 5 Prozent werden aus Pflanzen gewonnen, obwohl sie alle natürlichen Ursprungs sind.
Heute werden über 500 Rohstoffe, die ursprünglich aus etwa 250 verschiedenen Pflanzenarten gewonnen wurden, für die Herstellung von Parfüms und Aromen eingesetzt. Wie erwähnt, werden viele Verbindungen durch organisch-chemische Methoden synthetisiert, was z. B. Firmenich seit den 1930er Jahren nutzt. Heute wird dieser Ansatz jedoch durch zwei Tendenzen behindert: (a) Die Konsumentinnen und Konsumenten fragen zunehmend nach nachhaltigen, "organischen" und "grünen" Produkten, die idealerweise natürlichen Ursprungs sind, was die Anwendung der organischen Chemie ausschliesst. (b) Die organische Chemie, insbesondere die für komplexere Moleküle, wird durch hohe E-Faktoren ausgebremst. Der E-Faktor beschreibt, wie verschwenderisch ein synthetischer Prozess ist (E = produzierter Abfall/produziertes Produkt). Dementsprechend befindet sich die Aromen- und Duftstoffindustrie heute in einem Dilemma. Aufgrund von Wilderei, Klimawandel und Übernutzung wird es immer schwieriger, die Rohstoffe aus natürlichen Ressourcen zu beschaffen. Beispiele dafür sind Rosenöl, Jasminöl, Tuberoseöl, Angelikawurzelöl, Orangenblütenöl und Agarholz. Agarholz ist ein tropisches Hartholz, für dessen destilliertes Öl schon Höchstpreise bis zu 80'000.- Franken pro Kilogramm geboten wurden. Es wird aus einem Baum gewonnen, der mit einem ganz bestimmten Schimmelpilz infiziert sein muss. Der durch die Infektion verursachte Stress bringt den Baum dazu, ein aromatisches Harz zu produzieren, aus dem das Öl gewonnen wird. Dieses Beispiel veranschaulicht, warum die Aromen- und Duftstoffindustrie seit langem die organisch-chemische Synthese nutzt und die meisten Moleküle heute chemisch synthetisiert werden, und weniger als 5 Prozent aus Pflanzen gewonnen werden.
Die Situation ist ähnlich wie bei den niedermolekularen Pharmazeutika: Etwa 70 Prozent der aktuellen kleinen Moleküle in der Pharmazie sind in ihrer Struktur von Naturprodukten inspiriert oder sogar von ihnen abgeleitet. Die grosse Mehrheit jedoch wird durch organisch-chemische Synthese hergestellt. Diese Zielmoleküle werden immer komplexer, was auch hier die organische Chemie an ihre Grenzen bringt und ihre E-Faktoren in die Höhe schnellen lässt.
Das heisst, dass unterschiedliche Schweizer Firmen wie Azad Pharma AG, Bachem, Corden Pharma, Dottikon Exclusive Synthesis, Firmenich, Givaudan, Lonza, Siegfried, Vifor und viele andere einen gemeinsamen Nenner und ähnliche Herausforderung haben.
- Alle nutzen die organisch-chemische Synthese als interne Schlüsseltechnologie für die Produktion.
- Alle müssen aktuelle und zukünftige Nachhaltigkeitskriterien erfüllen, und sind auf neue innovative Wege (u. a. mit Hilfe der Biotechnologie) für die Produktion angewiesen.
- Alle stehen in einem harten, internationalen Wettbewerb, insbesondere mit China und Indien. Fast 60 Prozent aller Patente, die zwischen Anfang 2016 und Juni 2020 angemeldet wurden, stammen von chinesischen Universitäten und Unternehmen (K. Hecht et al. Catalysts (2020), 10:1420) . Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Verschiebung der Schweizer Biotechnologie über die letzten 40 Jahren, weg von kleinen Molekülen hin zu grossen Molekülen, heute ein Problem darstellt.
Evolva ist das einzige Schweizer Unternehmen, das ausschliesslich Biotechnologie für die Herstellung von naturbasierten Inhaltsstoffen einsetzt. Aber diese Situation ist auch eine Chance für die verbliebenen akademischen und industriellen Akteurinnen und Akteure. Um den Rückstand aufzuholen, müssen wir uns aber von den üblichen Ansätzen verabschieden. Hier ein paar Gedanken, was und wie wir die Dinge anders anpacken können.
- Die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, überdenken und radikal neue Wege der Interaktion ausprobieren (z. B. Blockchain für offene Innovation und Entwicklung).
- Die Konsequenzen von Big Data und künstliche Intelligenz für die chemisch-enzymatische Synthese viel besser nutzen.
- Die vielversprechendsten Felder zukünftiger disruptiver Entwicklungen von nationaler Bedeutung für unsere Industrie identifizieren.
- Sich der konvergenten technischen Bedürfnisse der Gesundheits-, Lebensmittel- und Agrotech-Branche bewusst sein und diese durch Bündelung der Kräfte nutzen.
- Wechsel von einem defensiven zu einem offensiven Modus.
2004 wurde ein erster Schritt in diese Richtung getan, mit der Gründung des Swiss Industrial Biocatalysis Consortium (SIBC) und dem Ziel, die Biokatalyse als effiziente, ökonomisch und ökologisch attraktive Technologie für industrielle Anwendungen zu fördern (S. Hanlon, CHIMIA (2020) 74(5):342). 2020 haben die Swiss Biotech Association (SBA) und die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) begonnen, gemeinsam mit der SIBC die Entwicklung der Schweizer Biotechnologie über den biopharmazeutischen Sektor hinaus voranzutreiben (https://www.swissbiotech.org/industrial-biotech-2/).
Fühlen Sie sich angesprochen? Dann nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf!
Hans-Peter Meyer (Expertinova AG), SATW Mitglied, Leiter Fachgruppe Biotechnologie
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