Technologie-Cluster brauchen Kultur der Zusammenarbeit
Der Begriff «Ökosystem» wird heute in Tageszeitungen wie der NZZ (Zürich kämpft mit dem Matthäus-Prinzip), Blogs oder Talkshows oft im Zusammenhang mit Wohlstand und Innovation gebraucht. Dabei wird der Begriff auch auf Technologie-Cluster angewendet. Doch stimmt diese Analogie? Und ergeben sich dadurch Anregungen, wie sich die Rahmenbedingungen für solche Technologie-Cluster optimieren lassen?
Co-Autoren: Kaspar Eigenmann, Christian Suter
Exkurs: Input aus der Biologie
Stimmt die Analogie zwischen Ökosystemen und Technologie-Clustern? Ein Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Atlant Bierimit dem Wissenschaftsjournalisten Atlant Bieri, der sich in seinem Buch «Natur aus den Fugen?» mit invasiver Arten und damit auch mit Ökosystemen auseinandergesetzt hat.
Im Rahmen eines Projekts der SATW-Themenplattform «Biotechnologie und Bioinformation» wurden diese Fragen untersucht, als konkretes Beispiel diente der Technologie-Cluster «Biotechnologie und Gesundheit». An einem Workshop identifizierten und bewerteten Experten aus verschiedenen Disziplinen für das Ökosystem «Biotechnologie und Gesundheit» relevante positive und negative Einflussfaktoren. Die gleiche Aufgabe erfüllten Studierende des 4. Semesters der Studiengänge Molekular Life Science und Pharmatechnologie der Hochschule für Life Sciences FHNW im Rahmen des Moduls «Drug Discovery». Als dritte Meinung wurden Aussagen von Pharma-Spezialisten, geäussert im Magazin «The Medicine Maker», zusammengefasst, eingeordnet und bewertet.
Technologie-Cluster ist ein Ökosystem
Die Schlussfolgerungen aus den verschiedenen Meinungen zeigen, dass sich die identifizierten Einflussfaktoren den Attributen zuordnen lassen, die ein Ökosystem auszeichnen. Die Analogie zwischen Ökosystem und dem Technologie-Cluster «Biotechnologie und Gesundheit» ist gegeben.
Attribut eines Ökosystems | Einflussfaktor auf Technologie-Cluster mit komparativem Konkurrenzvorteil |
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offen, bezüglich des Austauschs von Energie, Material und Information | Wissen beziehungsweise Wettbewerbsfähigkeit (Einzigartigkeit) |
komplex und daher ist seine Entwicklung schwierig vorherzusagen | Aktuelle Entwicklungen wie Atomisierung der Gesellschaft, Partikularinteressen, aufgezwungene politische Praktiken von Hegemonialmächten und supranationalen Organisationen. Ein institutionalisiertes, durch alle Sphären vernetztes Frühwarnsystem mit relevanten Diskursplattformen kann zu komparativen Konkurrenzvorteilen führen. |
durch positive (verstärkende) und negative (dämpfende) Rückkopplungen reguliert | Innovation und regulatorischer Rahmen |
ist mehr als die Summe seiner Elemente und zeigt daher nicht ableitbare Eigenschaften | Wissen, Kompetenzen, Praktiken, Neugierde und Umgang mit Nichtwissen |
hierarchisch von unten nach oben organisiert. Das System hat die Fähigkeit sich selber zu organisieren, neue Strukturen zu bilden, zu lernen oder zu diversifizieren | Freiraum fördert die Gestaltungskraft des orchestrierten und vernetzten Zusammenspiels von Systemteilen. Durch kluge Rückkopplung entstehen qualitativ gute Leistungen, die zu einem komparativen Konkurrenzvorteil führen. |
dynamisch, es wächst, entwickelt sich und kämpft um die vorhandenen Ressourcen | Jede Systemkomponente durchläuft einen Lebenszyklus und jede Phase des Lebenszyklus folgt eigenen Anforderungen, welche die Existenz des Ökosystems unterschiedlich sichern. Ein konstruktives Zusammenspiel der Einflussfaktoren der einzelnen Sphären kann zu komparativen Konkurrenzvorteilen führen. |
ist belastbar und robust und kann Störungen dank Vielfalt, Adaptation, Widerstandsfähigkeit und Verbundenheit reagieren | Diversität, Differenzierung und Offenheit |
Ökosysteme erbringen Leistungen, solange ihre Attribute ineinandergreifen und aufeinander abgestimmt sind. Das Gleiche gilt für den Technologie-Cluster. Daraus ergeben sich Anregungen zur Optimierung der Rahmenbedingungen. Diese sollten sich an den Einflussfaktoren orientieren, die einen Bezug zu den Attributen eines Ökosystems haben. Durch die Analogie zum Ökosystem ergibt sich für die Wohlstandsicherung oder gar den Ausbau des Wohlstands, dass die wichtigsten Attribute des Technologie-Clusters zwingend aufeinander abgestimmt werden müssen.
Empfehlung: gemeinsame Kompromisse finden
Die Abstimmung der verschiedenen Attribute entsteht aus einem Austausch zwischen den Sphären und basiert auf gesicherten Fakten, Wissen und Urteilsvermögen. Partikularinteressen, die in einer offenen Gesellschaft legitim sind, müssen durch Kompromisse zu Lösungen zusammengeführt werden. Die Verantwortung für das Gelingen dieser Zielfindungen liegt in den Händen von wichtigen Exponenten der drei Sphären: den politischen Parteien (neuerdings auch Bürgerinitiativen), den Sozialpartnern sowie den akademischen Organisationen. Was wir brauchen, ist eine neue Kultur, die gemeinsam die für die Gesellschaft entscheidenden Probleme identifiziert und im Diskurs über zielführende Kompromisse löst.
Nachtrag: Was aktuell schiefläuft
In der Sphäre Recht und Gesellschaft waren sich die Befragten einig, dass sich Freihandel und Globalisierung grundsätzlich positiv auf den Lebensstandard der Bürgerinnen und Bürger auswirken. Bei den negativen Einflussfaktoren wurden die Befragten sehr konkret und nannten restriktive Gesetze, die Regulierungsdichte, Zölle und Protektionismus. Zudem sahen vor allem die Studierenden in der Polarisierung der Politik (national) und in politischen Konflikten, Krisen und Kriegen negative Einflussfaktoren. Aktuelle Entwicklungen wie der Handelsstreit zwischen den USA und China und das Verhängen von Strafzöllen zeigen, was die negativen Einflüsse sein können. So gehören die US-amerikanische Bau- und Autoindustrie, aber auch die Konsumentinnen und Konsumenten zu den Verlierern der Strafzölle auf Stahlimporte in die USA.
Weitere Informationen und Kontakt
- Schlussbericht des SATW-Projekts «Die Bedeutung des Ökosystems Biotechnologie für den Industriestandort Schweiz», Co-Autoren: Daniel Gygax, Kaspar Eigenmann, Christian Suter
- Anhänge zum Schlussbericht
Biotechnologie mit hoher Bedeutung für Schweiz
Die Ursprünge der Biotechnologie reichen fast 10'000 Jahre zurück, als Menschen in frühen Agrargesellschaften Samen von Pflanzen mit den besten Eigenschaften für die Pflanzung im kommenden Jahr sammelten. Später brauchten die Menschen Mikroorganismen zur Veredelung von Nahrungsmitteln und Getränken wie Bier, Wein und Brot. Auf diesen frühen Praktiken basiert auch die Definition der Biotechnologie, nämlich der Gebrauch von ganzen Zellen oder deren Teilen zur Herstellung von Produkten. Seither hat sich die Biotechnologie rasant entwickelt. Heute behandeln wir Krankheiten mit rekombinanten Proteinen und neuerdings auch mit genetisch veränderten menschlichen Zellen. Dies alles hat dazu beigetragen, den Wohlstand und die Lebensqualität der Menschen zu verbessern. Der Technologie-Cluster «Biotechnologie und Gesundheit» ist ein für die Schweiz volkswirtschaftlich bedeutendes Cluster, denn Biotechnologie ist eine Querschnittstechnologie, die in wesentliche Wertschöpfungsketten wie die der Pharma-, Diagnostik-, Medizintechnik- und der Nahrungsmittelindustrie integriert ist.
16. September 2020
Josef H. Reicholf ("Mythos Gleichgewicht") und Nathan Gardels ("Verdrängen wir Gott von seinem Platz?") beschäftigen sich beide mit (Un -)Gleichgewichten und der Rolle des Menschen im Anthropozän bzw. Neozän. Als Naturwissenschafterin betrachte ich mit Sorge, wie sich das Anthropozän manifestiert – als Mensch interessiert mich, wie wir einen gerechtes, prosperierendes und friedvolles Zusammenleben finden - über Generationen, Gesellschaften und Speziesgrenzen hinweg - in einem Umfeld schwindender Möglichkeiten bezüglich Ressourcen und stetig wachsender bezüglich Wissen, Technologie und Anzahl Menschen. Ein Schlüssel zu allen Herausforderungen der Zukunft wird unsere Lernfähigkeit sein, als Einzelpersonen wie auch als Gemeinschaften. Das Lernen beinhaltet einerseits das Aneignen von Kompetenzen und unsere Performanz in der Anwendung dieser, andererseits aber auch eine Response-Ability, dank der wir uns und unsere Organisationen und Systeme auch tatsächlich aufgrund von äusseren Impulsen verändern und ins Handeln kommen. Wie entwickeln wir den nötigen Gemeinsinn, um nicht nur zu beobachten, wie sich die Natur durch uns verändert, sondern als Teil von ihr die Symbiosen einzugehen, die Wohlergehen bedeuten? Es lohnt sich, unsere Beziehungen zur Natur zu stärken: durch sie erleben wir Momente der Resonanz, wenn wir im Innersten berührt werden und uns als Teil der Welt erkennen, und wir können durch Beobachtung auch im Sozialen imitieren, wie es die Technologie mit der Bionik schon lange macht. Aus der geologisch-naturwissenschaftlichen Perspektive des Anthropozäns brauchen wir klassische Fähigkeiten und Fertigkeiten, vom Umgang mit Pestiziden, der Organisation der Kreislaufwirtschaft bis hin zu empathischem Leadership auf Augenhöhe. Gardels beschreibt ein mögliches Neozän, in dem der Mensch nicht (mehr) im Zentrum steht, sondern sich in gleichwertiger Beziehung zu Natur und Technik weiterentwickelt. Eine Ahnung dieses Zeitalters befällt mich, wenn ich mit Technologie konfrontiert bin, die sich über meine Vorstellungsgrenzen hinweg ausdehnt – aber auch, wenn mich eine stimmungsvolle Landschaft rührt. Die Zukunft kommt nicht plötzlich, sondern als Stückwerk, wir lernen mit ihr; und können wählen, was wir lernen wollen. Wenn wir als EntscheidungsträgerInnen lernen, mit unserem Umfeld in Dialog zu treten; Vertrauen zu fördern und Gemeinsinn zu verlangen; wird es uns leichter fallen, neue Ungleichgewichte zu finden. Die grosse Transformation, die ein weiteres Merkmal des Anthropozäns sein wird, lässt sich nur gemeinsam verwirklichen. Es braucht Mut zum Dialog - mit der Natur, der Technologie und besonders uns selbst.
Referenzen:
Josef H. Reichholf: - www.nzz.ch/feuilleton/josef-reichholf-ueber-anthropozaen-klimawandel-und-die-menschheit-ld.1564036
Nathan Gardels: www.nzz.ch/feuilleton/zukunft-des-menschen-ersetzen-wir-gott-oder-die-maschinen-uns-ld.1561928?reduced=true
29. Juli 2020
Ungleichgewichte als Treiber des Wandels
Ökosysteme verändern sich ständig, da sie Störungen von aussen ausgesetzt sind. Wir gehen davon aus, dass die Widerstandsfähigkeit des Systems diese Störungen ausbalanciert und für adaptive und dynamische Gleichgewichte sorgt. Die Gleichgewichte sind deshalb nicht statisch, sondern verändern sich, geben aber dem (Oeko-) System Zeit für die Anpassung an die veränderten Verhältnisse. Sie verleihen dem (Oeko-) System Resilienz und Robustheit.
In seinem Artikel «Mythos Gleichgewicht» diskutiert Josef H. Reichholf die Rolle von Gleichgewicht und Ungleichgewicht in Oekosystemen. Er weist darauf hin, dass Ökosysteme und Lebewesen offene Systeme sind und als solche existieren, weil sie kein Gleichgewicht kennen. Es sind also die Ungleichgewichte, die offene Systeme antreiben. Konsequenterweise plädiert er für ein alternatives Konzept, das auf stabile Ungleichgewichte setzt und so einen nachhaltigen Wandel ermöglicht. Ein Wandel, der Interdependenzen im System optimal aufeinander abstimmt. Sein Fazit für eine nachhaltige Zukunft ist: «Wir sollten uns besser auf das Anthropozän mit seinem globalen Wandel einstellen, als einen nicht haltenden Zustand zwanghaft erhalten zu wollen».
Referenzen
- schweizermonat.ch/mythos-gleichgewicht/
- www.nzz.ch/feuilleton/josef-reichholf-ueber-anthropozaen-klimawandel-und-die-menschheit-ld.1564036
- Josef. H. Reichholf, Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft. edition unseld, 2008