23. April 2019

«Vision Zero» ist Illusion

Claudia Schärer - Digitalisierung, Künstliche Intelligenz

Am 11. April 2019 diskutierten Expertinnen und Experten Sicherheits- und Risikoaspekte hochautomatisierter Fahrzeuge. Grundlage bildeten 15 Kurzreferate aus der Perspektive von akademischer Forschung, Industrie, Juristen und Behörden. Nach intensiven Diskussionen war sich die Runde einig: «Vision Zero» – also unfallfreie Mobilität – bleibt eine Illusion und autonome Fahrzeuge im Individualverkehr werden das Strassenbild nicht vor 2060 dominieren.

Gut 30 Fachpersonen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich folgten der Einladung der SATW und nahmen am Workshop teil. Wolfgang Kröger, SATW-Mitglied und emeritierter Professor der ETH Zürich, führte durch den Tag, der in vier Themenblöcke gegliedert war. Die Aufmerksamkeit blieb bis zur letzten Minute hoch und die Diskussionen wurden beim anschliessenden Apéro intensiv weitergeführt.

Motivation und Erwartungen

Autonome Fahrzeuge sind in aller Munde und finden fast täglich Erwähnung in Publikumsmedien. Doch was sind eigentlich die Treiber für die Entwicklung autonomer Fahrzeuge? Ursprünglich gehen die Technologien und Visionen auf technische Spielereien von Forschenden zurück. Unterdessen gehören Projekte sozusagen zum «guten Ton», sind Gegenstand intensiver Entwicklung in der Automobilindustrie und stellen ein wichtiges Differenzierungsmerkmal dar. Und auch branchenfremde Unternehmen wie die Google-Tochter Waymo haben die Spielwiese für sich entdeckt und sind an der Front aktiv. Sowohl bei den Herstellern als auch bei den Bürgerinnen und Bürgern besteht trotz Unfällen in der nahen Vergangenheit die Hoffnung, dass der Individual- und öffentliche Verkehr mit autonomen Fahrzeugen sicherer wird. Die Bevölkerung erwartet verbesserte Mobilitätsmöglichkeiten für Gruppen ohne Fahrausweis wie Senioren und Kinder, aber auch einen Gewinn an Komfort und Zeit, da sich die Reisezeit in einem autonomen Fahrzeug ohne Fahrverpflichtung produktiv nutzen lässt.

Zwei Entwicklungsparadigmen prägen Europa und die USA

In Europa, speziell in Deutschland, herrscht die Denkweise vor, dass die Behörden festlegen, welche Anforderungen ein autonomes Fahrzeug in welchen Szenarien virtuell und auf Prüfständen erfüllen muss, bevor es auf der Strasse zugelassen wird. Die Identifizierung dieser Szenarien basiert auf der vorhandenen Datenbasis wie Unfallsstatistiken ohne autonome Fahrzeuge. Die USA setzen im Unterschied dazu auf Testfahrten und hohe Entscheidungsfreiheit bei den Herstellern mit nur wenig regulatorischen Vorgaben. Im Schadenfall haften dann die Hersteller, was schnell den Ruf und die Finanzen einer Firma ruinieren und deshalb ein wirkungsvolles Regulativ darstellen kann.

Simulation und Prüfstände

Waymo fährt in Arizona mit autonomen Fahrzeugen zig tausende von Meilen und sammelt wertvolle Erfahrung. Allerdings ist der Kontext immer ähnlich und die Wetter- und Strassenbedingungen sind meist ideal. Diese Absicherung nur über gefahrene Meilen reicht nicht; es braucht Simulationen, validierte Modelle und Standards zur Berücksichtigung von verschiedenen Szenarien. Dazu müssen allerdings zuerst die relevanten Szenarien auf der Basis vorhandener und gezielt erzeugter Daten identifiziert werden. Da es nicht möglich ist, alle möglichen Szenarien zu finden und zu testen, bleibt die Frage, wie ein autonomes Fahrzeug in einer unbekannten Situation reagiert. Was beim Menschen dank eines guten Einfühlungs- und Handlungsvermögens meist gut endet, kann bei einem autonomen System katastrophal ausgehen. Eine weitere Möglichkeit, um sicherheitsrelevante Aspekte zu überprüfen, sind physische Prüfstände, in denen ein voll ausgestattetes Fahrzeug «eingespannt» und verschiedenen Testszenarien unterworfen wird. Doch wie stimuliert man Sensoren ohne ein eigentliches Signal? Wie digitalisiert man die Verkehrsinfrastruktur, um den Horizont der Testfahrzeuge zu erweitern? Antworten auf diese Fragen gab es in einem spannenden Referat des Karlsruhers Institut für Technologie mit viel Bild- und Videomaterial.

Das Problem der Umgebungskomplexität

Fahrzeuge bewegen sich in einer hoch komplexen Umgebung mit unzähligen unvorhersehbaren Situationen. Ist ein Mensch in der Lage, auf diese mit gesundem Menschenverstand angemessen zu reagieren, stellen sie autonome Fahrzeuge vor Probleme. Einerseits sollen die Technologien dank inter- und transdisziplinärer Forschung zu smarten Systemen heranreifen; andererseits können Rahmenbedingungen, die neu für die Infrastruktur festgelegt werden, so ausgestaltet werden, dass sie die Komplexität vermindern und smart werden. Gewisse deutsche Städte bewegen sich dank genialen Stadtplanern und engagierten Bürgermeistern genau in diese Richtung: Eine Gesamtmobilitätslösung, ein Umfeld für moderne Mobilität ist anzustreben. Die Wichtigkeit von Kleinprojekten wie diejenigen in Sion oder Marly, die gut begleitet sind und wenig Schaden anrichten können, wurde betont.

Eine Herausforderung für Versicherungen und das Recht

Fällt der Fahrer weg, wird auch die klassische Autoversicherung obsolet, sie ist vermutlich ein Auslaufmodell. Die Versicherungen brauchen Zugang zu Daten, um zu lernen und Korrelationen zu finden. So lassen sich neue Geschäftsfelder wie «individual pricing» erschliessen. Langfristig geht es eher um Risikomanagement und Schadenvermeidung als um die traditionelle Versicherungspolice.

Die Entwicklung autonomer Fahrzeuge stellt auch für die Rechtsprechung eine grosse Herausforderung dar, obwohl im Bereich der Haftpflicht keine grösseren Änderungen notwendig sein werden. Allerdings hinkt das Recht immer hinter den disruptiven Technologien hinterher. Problematisch wird dies, wenn der Abstand zu gross wird. Um dies zu vermeiden, braucht es eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Technikern und Juristen, und die Ausbildung im Bereich Recht sollte technikaffiner gestaltet werden, um den steigenden Ansprüchen Rechnung zu tragen.

Schlussfolgerungen

Momentan ist die autonome Mobilität eine «Schönwettertechnologie», die nur bei trockenen Strassen, guter Sicht und normalen Lichtverhältnissen funktioniert. Es braucht Forschung, Simulations- und Testmodelle und eine Verminderung der Umgebungskomplexität, um die Technologie zum Fliegen zu bringen. Eine Marktdurchdringung im Individualverkehr ist wohl nicht vor 2060 zu erwarten. Auch wird die «Vision Zero» – also die unfallfreie Mobilität – eine Illusion bleiben; ein Restrisiko wird immer mitfahren. Es bleibt die Frage, wie gross das Restrisiko sein darf beziehungsweise um wie viel sicherer als der Mensch ein autonomes System sein muss. Vielleicht braucht es in Zukunft ja keinen «Führerschein» für das Auto. Was es sicher braucht, ist die Aufklärung von und den offenen Dialog mit der Bevölkerung.

Auskunft

Claudia Schärer, Leiterin Früherkennung, claudia.schaerer(at)satw.ch
 

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