Braucht die Schweiz eine Bioökonomie-Strategie?
Die USA haben einen, die EU hat einen, China hat einen – nur die Schweiz hat noch keinen! Gemeint sind Bioökonomie-Strategien und Green-Deal-Verträge, die von Regierungen und Organisationen verabschiedet wurden. Warum hat die Schweiz noch keine Bioökonomie-Strategie? Brauchen wir überhaupt eine Bioökonomie-Strategie?
Was ist Bioökonomie?
Die Bioökonomie hat eine Vielfalt an Definitionen. Aber im Wesentlichen beinhalten diese folgende vier Elemente:
- Die Verbreitung der Anwendung der Biotechnologie
- Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen als Ausgangsmaterialien
- Zirkuläre und integrierte Prozesse und Systeme
- Vermeidung von Monokulturen, Bodendegradation und Gefährdung der Biodiversität
Wer hat eine Strategie?
Alle grossen Volkswirtschaften der Welt haben eine Bioökonomie-Strategie formuliert (siehe Tabelle). Diese unterscheiden sich naturgemäss, abhängig von Ressourcen, industriellen und ökonomischen Gegebenheiten. Die erste Bioökonomie-Strategie der EU wurde vor elf Jahren veröffentlicht, 2018 überarbeitet und enthält aktuell fünf Schwerpunkte. China hat mit seinem Bioökonomie-Masterplan 2021–2025 den Wert der Biotechnologie erkannt und strebt eine globale Führungsrolle in diesem Bereich an. Es erstaunt daher nicht, dass US-Präsident Joe Biden letztes Jahr mit einer «National Biotechnology and Biomanufacturing Initiative» konterte. Auch Japan denkt in Superlativen. Die Bioökonomie-Strategie der japanischen Regierung hat das Ziel, bis 2030 die fortschrittlichste Bioökonomie-Gesellschaft der Welt zu verwirklichen.
Tabelle: Beispiele von Bioökonomie-Strategien einiger Länder und deren Schwerpunkte. Die rechte Spalte zeigt die Verfügbarkeit von landwirtschaftlich nutzbarer Fläche pro Kopf:
Land |
| Strategische Schwerpunkte | ha/Kopf |
---|---|---|---|
Schweiz |
| Keine Strategie, aber diverse Vorarbeiten wie z. B. die Broschüre «Erneuerbare statt fossile Rohstoffe – eine Chance für die Schweiz» der SATW von 2015 oder das Nationale Forschungsprogramm NFP 66 Ressource Holz, das 2018 abgeschlossen wurde | 0,05 |
Europa | 2018 | Ernährungssicherheit. Nachhaltiges Ressourcenmanagement. Abhängigkeit von fossilen Ressourcen. CO2-Emissionen. Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit. | 0,22 |
USA | 2022 | «National Biotechnology and Biomanufacturing Initiative». Strategische Investitionen in die Biotechnologie und US-Bioproduktionsstandorte. Die öffentliche Gesundheit und Klimawandel stehen im Vordergrund. | 0,48
|
Japan | 2019 | «Japan Bioeconomy Strategy». Nachhaltige primäre Produktionssysteme. Biobasierte Hochleistungsmaterialien wie z. B. Biokunststoffe. Produkte der Gesundheitsversorgung und Verbesserung des Lebensstils. Smart Forestry. | 0,03
|
China | 21-25 | «Bioeconomy Development Plan». Biomedizinische Technologien. Modernisierung der Landwirtschaft, Energie und Materialien aus Biomasse. Schutz biologischer Ressourcen. Biologische Sicherheitssysteme. Führungsrolle in der Biotechnologie. | 0,08
|
Indien | 2016 | «National Mission on Bioeconomy». Steigerung der Biokraftstoffproduktion. Verbesserung der ländlichen Wirtschaft durch Nutzung von Bioressourcen. Nationale Biopharma-Initiative. | 0,11
|
Deutschland | 2020 | «Nationale Bioökonomie». Ökonomie und Ökologie für eine nachhaltige Wirtschaft. Biogene Rohstoffe und bioökonomische Wertschöpfungsketten. Entwicklung ländlicher Räume. | 0,18 |
Die Schweiz lässt sich aus einem einfachen Grund Zeit. Die Biotechnologie hat sich in der Schweizer Wirtschaft und an den Schweizer Hochschulen seit Längerem zu einer wichtigen Grösse entwickelt mit einem Schwerpunkt auf innovativen Pharmaprodukte, Feinchemikalien und anderen margenkräftigen Produkten.
Dennoch wäre es an der Zeit, eine nationale Bioökonomie-Strategie zu erarbeiten, auch wenn die Menge nachwachsender Rohstoffe gering ist, vor allem um Diskussionen auszulösen. Der stark subventionierte Zuckeranbau ist ein interessantes Beispiel: Laut Magazin Schweizer Bauer wurden 2019 aus 1,65 Millionen Tonnen Zuckerrüben 240’000 Tonnen Zucker produziert und ein Viertel davon an Red Bull für Süssgetränke verkauft. Die Frage drängt sich auf, ob es für diesen subventionierten Zucker nicht vernünftigere und vor allem gewinnträchtigere Alternativen gibt.
Die Biomasseverfügbarkeit
Die Verfügbarkeit von Roh- und Ausgangsstoffen aus der Land- und Forstwirtschaft ist ein entscheidender Faktor. Ein begrenzendes Problem ist die stetige globale Abnahme an verfügbarer landwirtschaftlicher Nutzfläche pro Kopf. Die aktuellen Werte sind in der Tabelle oben angegeben und zeigen sehr grosse Unterschiede. Diesbezüglich hat die Schweiz denkbar schlechte Karten. Die pro Kopf landwirtschaftlich nutzbare Fläche ist viereinhalb mal kleiner als das der EU. Auf Grund der Topografie verwundert es nicht, dass das gesamte Biomassepotenzial der Schweiz sehr ernüchternd und bescheiden ist. Die einzige nennenswerte nutzbare Biomassequelle wäre Holz aus Schweizer Wäldern . Ein Drittel der Landesfläche ist mit Holz bedeckt, das ergibt etwa 1450 Quadratmeter oder etwa 0,15 Hektaren Wald pro Einwohner:in. Zum Vergleich, der weltweite Wert beträgt 0,6 Hektaren Wald pro Kopf, aber mit grossen Unterschieden zwischen den Ländern. Die Spitzenreiter in Europa sind Finnland und Schweden mit 4,45 respektive 3,5 Hektaren pro Kopf. Im Vergleich mit der EU ist die Schweiz eines der Schlusslichter. Nur Belgien, UK und die Niederlanden haben noch tiefere Werte. Das Schlusslicht ist Malta mit 0 Hektaren pro Einwohner.
Bioökonomie-Strategie der Schweiz
Obwohl wir noch keine nationale Bioökonomie-Strategie formuliert haben, lässt sich aus den erwähnten Vorarbeiten Folgendes ableiten: Die Schweiz hat weder die benötigten Anbauflächen noch die geeigneten Strukturen und Schnittstellen zwischen Landwirtschaft und Chemie für die Produktion von Bioethanol und anderen Bulkprodukten. Ziel sollten hochwertige Produkte mit kleinen Tonnagen und genügend hoher Wertschöpfung sein. Die Orientierung an der Exportwirtschaft und an den Bedürfnissen eines weltweiten Marktes ist eine Voraussetzung.
Holzbasierte Bioökonomie?
Theoretisch könnten pro Jahr rund 8 Millionen Kubikmeter Holz geerntet werden . Unter der Leitung des Swiss Wood Innovation Network S-WIN soll eine Erweiterung der Holznutzung angedacht werden. Welche zusätzliche Aufgaben könnte der Holzsektor in Zukunft eventuell übernehmen? Welche neuen Technologien und Verfahren der Holzverwertung gibt es? Was sind die attraktivsten Wertschöpfungsketten? Braucht es spezifische F&E für eine solche holzbasierte Bioökonomie? Welche Allianzen sollte man prüfen?
Diese Arbeit des S-WIN, die als Basis für eine umfassendere Bioökonomie-Strategie dienen kann, ist unterstützenswert.
Bioraffinerie ist nicht gleich Chemoraffinerie
Eine Bioraffinerie ist nicht dasselbe wie eine Petroraffinerie. Die hochfunktionalisierte und oxidierte Biomasse benötigt andere Transformationsverfahren als ölbasierte Ausgangsstoffe. Es ist also nicht möglich, die weltweit vorhandenen Raffinerie-Installationen quasi im Huckepack für die Bioökonomie zu nutzen. Viele dieser ölbasierten Anlagen sind ausserdem abgeschrieben. Beide Ansätze aber basierten bisher auf margenschwachen, kostensensiblen Transformationen und Produkten. Im Wettbewerb mit den über die letzten hundert Jahren perfektionierten herkömmlichen Raffinerien haben die neue Bioraffinerien einen schweren Stand. Cressier ist die letzte verbliebene Ölraffinerie in der Schweiz, betrieben durch Varo Energy Group . Mit einer Kapazität von 68'000 Fass pro Tag deckt diese etwa einen Viertel des täglichen nationalen Bedarfes. Das entspricht weniger als 0,1 Prozent des weltweiten Ölverbrauchs von etwa 93 Millionen Barrel pro Tag.
Wie sieht die Zukunft aus?
Neben der Verfügbarkeit und den Preisen von Erdöl und Biomasse werden auch die Preise für CO2-Emissionszertifikate entscheidend sein. Der Rückversicherer Swiss Re hatte den CO2-Preis für eigene Risikoabschätzungen Anfang 2021 auf 100 US-Dollars pro Tonne festgelegt. Bis 2030 soll der Preis 200 US-Dollars betragen. Gut möglich, dass Versicherung und Kapitalmärkte den Wechsel zu einer Bioökonomie stark beschleunigen.
Die Welt von heute basiert nach wie vor auf Petrochemie. Dünger, Chemikalien, Plastik, Kleidung und unzählige Verbrauchsgüter sind ölbasiert und werden es für lange Zeit bleiben, weil ölbasierte Produkte in vielen Bereichen auch sinnvoller sind als die biobasierten Alternativen. Petrochemikalien werden auch in den kommenden Jahrzehnten der grösste Treiber der globalen Ölnachfrage sein. Aber eine Bioökonomie-Strategie soll richtungsweisend sein, für welche Produkte Erdöl oder Biomasse die nachhaltigste Lösung ist.
Das Thema Bioökonomie ist komplex, aber die S-WIN-Initiative kann mit standardisierten Ansätzen eine fundierte Auslegeordnung für holzbasierte Biomasse erstellen. Diese Arbeit kann später als Basis für eine umfassendere Bioökonomie-Strategie der Schweiz dienen, auch um Rahmenbedingungen und Langzeiteffekte von Entscheidungen abzuschätzen.
Kontaktieren Sie uns, wenn Sie das Thema mitgestalten möchten!
Hans‐Peter Meyer, Expertinova AG, Leiter Wissenschaftlicher Beirat SATW
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