Technologie-Cluster als Ökosysteme: Input aus der Biologie
Der Begriff «Ökosystem» wird heute in Tageszeitungen, Blogs oder Talkshows oft im Zusammenhang mit Wohlstand und Innovation gebraucht. Dabei wird der Begriff auch auf Technologie-Cluster angewendet. Doch stimmt diese Analogie? Und ergeben sich dadurch Anregungen, wie sich die Rahmenbedingungen für solche Technologie-Cluster optimieren lassen? Im Rahmen des SATW-Projekts «Die Bedeutung des Ökosystems Biotechnologie für den Industriestandort Schweiz» wurden diese Fragen untersucht, als konkretes Beispiel diente der Technologie-Cluster «Biotechnologie und Gesundheit». Die Analogie beschäftigt die Autoren noch weiter. So führte nun Daniel Gygax, Einzelmitglieder der SATW und Leiter Themenplattform «Technologien für die Präzisionsmedizin», ein Interview mit dem Wissenschaftsjournalisten Atlant Bieri, der dank seinem Buch zu invasisen Arten etwas zu Ökosystemen sagen kann.
Herr Bieri Sie haben sich in Ihrem Buch «Natur aus den Fugen?» mit der Verbreitung invasiver Arten auseinandergesetzt. Das Wort invasiv kommt von lateinisch invadere und bedeutet eindringen, was negativ konnotiert ist. Wie sehen Sie das?
Das Wort «Invasion» ist mehrheitlich negativ besetzt. Vor allem im alltäglichen Gebrauch. Ökologisch gesehen hat es jedoch keine Wertung. Invasionen sind ein natürlicher Prozess, den es schon gegeben hat, bevor der Mensch das Problem der invasiven Arten geschaffen hat. Eine Schweizer Buche in einem Schweizer Wald verhält sich ebenfalls invasiv. Sie unterdrückt jegliche Konkurrenz anderer Bäume. Oder Gräser sind invasiv, wenn sie sich in einer Wiese ausbreiten und vermehren, in der es plötzlich viel mehr Dünger gibt als vorher. Die Natur kennt kein gut oder schlecht. Sie macht einfach.
Mit Ihrer Aussage deuten Sie an, dass in einem Ökosystem eine Konkurrenz um vorhandene Ressourcen stattfindet, unabhängig davon, ob es sich um eine alteingesessene oder eingeführte Pflanzen handelt. In Ihrem Beispiel mit der Wiese weisen Sie darauf hin, dass vermehrter Stickstoffeintrag die Artenzusammensetzung auf der Wiese verändert. Können Sie uns andere Faktoren nennen, die ebenfalls zu einer Verschiebung der Artenzusammensetzung führen?
Ja, da gibt es einige: Die Verfügbarkeit von Wasser verändert zurzeit unsere Moore. Das Klima wird wärmer, das Moor trocknet langsam aus. So haben Pflanzen, die an Trockenheit angepasst sind, plötzlich einen Vorteil. Die typische Moorvegetation verschwindet. Das Klima selbst ist natürlich eine der stärksten Kräfte, die gegenwärtig auf die Arten in der Schweiz wirkt. Wenn es wärmer wird, kommt es zu grossen Verschiebungen bei vielen Organismengruppen. Und dann gibt es ganz viele Prozesse in der Natur, die eine Veränderung im Kleinen bewirken: Ein Waldbaum fällt um und hinterlässt eine Lücke in den Baumkronen, ein Erdrutsch exponiert mageren Unterboden, der Kot eines Rehs düngt eine Stelle auf der Wiese.
Das Ökosystem ist also einem ständigen Veränderungsdruck ausgesetzt und dies hat natürlich wie Sie sagen, auch Auswirkungen auf die Artenzusammensetzung. Sie sprechen von Verschiebungen bei Organismengruppen. Was heute aber oft im Zentrum der Diskussionen steht, sind Diversitätsverluste. Es scheint daher, als seien sehr diverse Ökosysteme im Vorteil gegenüber diversitätsarmen Ökosystemen. Wenn dem so ist, wie sähe dann die ideale «Biodiversität» aus und gibt es dafür eine Referenz? Damit meine ich, dass die Veränderungsrichtung des Ökosystems oder der Biodiversität nicht offen, sondern «ausrichtbar» ist.
Von einer «idealen» Biodiversität zu sprechen, geht sehr vom Menschen als Mittelpunkt der Welt aus. Für die Natur gibt es kein Ideal. Arten sterben aus, neue Arten entstehen. Zeit? Irrelevant. 100 000 Jahre oder eine Million Jahre. Es dauert halt alles so lange, wie es dauert. Die Dinosaurier wurden ausgelöscht und die Säugetiere haben den Planeten übernommen. Es kann gut sein, dass wir gerade Zeuge werden von der Auslöschung unser eigenen Art. Die Natur stört das nicht. Uns Menschen natürlich schon. Und uns stört auch, dass überhaupt Arten verschwinden. Darum jetzt aus menschlicher Sicht: Die ideale Biodiversität ist die, die möglichst gross ist. Wir verwenden viel Geld und Forschung dafür, um das gegenwärtige Artensterben aufzuhalten. Man weiss, dass biodiverse Ökosysteme produktiver sind als artenarme Ökosysteme. Letztere sind auch anfälliger auf Veränderungen wie Klimawandel. Niemand weiss, mit welchem Minimum an Artenvielfalt man das planetare Ökosystem am Laufen halten kann.
Da drängen sich Anschlussfragen auf. Was bedeutet die Aussage, biodiverse Ökosysteme seien produktiver. Worauf bezieht sich die Produktivität. Allgemein versteht man ja unter Produktivität das Hervorbringen von Produkten. Im Produkt stecken ja auch die Begriffe Leistungsfähigkeit und Wirkungsgrad. Das sind Begriffe, die ein Ziel vor Augen haben. Der evolutive Prozess ist aber ungerichtet und planlos. Gibt es physikochemische Attraktoren, die bei aller Planlosigkeit doch ein Ziel vorgeben?
Produktivität in der Ökologie bedeutet in der Regel Biomasse. Also produktive Pflanzen sind solche, die in kurzer Zeit viel wachsen. Man weiss, dass artenreiche Wiesen mehr Biomasse produzieren als artenarme, weil erstere die Ressourcen besser ausnutzen. Also eine Pflanze braucht beispielsweise viel Wasser, eine andere dafür viel Phosphor und eine dritte das Eisen im Boden. Die Pflanzen haben dabei schon ein Ziel: stärker zu sein als der Nachbar. Wenn sie das nicht sind, verschwinden sie. Wachsen, was das Zeug hält, ist im Erbgut der Pflanzen verankert. Alle anderen gibt es schon gar nicht mehr, weil sie ausgestorben sind.
Sie weisen auf das Minimum an Artenvielfalt hin, als die untere Grenze für ein funktionierendes Ökosystem. Gibt es entsprechend auch ein Maximum an Artenvielfalt?
Gute Frage. In der Ökologie gibt es die so genannte Insel-Theorie. Die besagt, dass je grösser eine Insel oder eine Landfläche ist, sie umso mehr Arten beherbergen kann. Je mehr Arten es jedoch gibt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Art wieder ausstirbt oder lokal verschwindet. Es gibt also irgendwann ein oberes Limit, bei dem sich die Aussterberate mit der Rate der Neuankömmlinge die Waage hält.
Wir haben das Interview mit den Neophyten begonnen, deren Qualität nicht darin liegt, dass sie von aussen kommen sondern darin, dass sie bestehende Ressourcen in einem Ökosystem besser als Konkurrenten nutzen können. Deutet man dies positiv, so impulsieren oder erneuern Neophyten ein bestehendes Ökosystem. Kann man diese Betrachtungsweise auch eine soziotechnisches Ökosystem übertragen?
Also wenn wir jetzt mal bei invasiven Neophyten (invasiven Arten) bleiben, dann muss man aus Sicht der Artenvielfalt sagen, es gibt keine Vorteile und keine positiven Impulse für das Ökosystem. Invasive Arten reduzieren die heimische Artenvielfalt auf lange Sicht. Sie reduzieren vor allem auch die Vielfalt der seltenen Arten. Heute werden invasive Arten zu den Hauptgründen für den Artenschwund gezählt neben Lebensraumverlust, Umweltverschmutzung oder Klimawandel. Das heisst, invasive Arten sind eine Katastrophe für die Biodiversität. Und sie sind ein menschgemachtes Problem. Wegen unseren Handelswegen, Schifffahrtsrouten, Flugzeugen und Autos – wegen unserer globalen und vernetzen Welt gibt es das Problem überhaupt erst. Ich bin mir nicht sicher, ob man sich an invasiven Arten etwas Positives für die Gesellschaft abschauen kann. Invasive Arten arbeiten zum Teil mit chemischer Kriegsführung, indem sie Giftstoffe aus ihren Wurzeln in die umgebende Erde ausscheiden und so andere Arten absterben lassen. So ein Vorgehen ist ja nicht etwas, was wir in unserer Gesellschaft wollen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, unterteilen Sie die Neophyten in solche, die sich über die Zeit gut in ein bestehendes Ökosystem integrieren und solche, die parasitär ein bestehendes Ökosystem schädigen oder sogar vernichten. Dieses Einschleppen von parasitären Neophyten geschieht ja schon seit Jahrhunderten. Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Massnahmen, die die «globale» Gesellschaft unternehmen müsste, um noch grösseren Schaden abzuwenden?
Wie in meinem Buch dargelegt, müssen wir zu einem Hygienebewusstsein in Bezug auf Ökosysteme gelangen. Das heisst, wir müssen überall, wo die Gefahr von Einschleppungen besteht, desinfizierende Massnahmen ergreifen. Manche Länder machen das schon recht gut. Australien zum Beispiel. Die Behörden dort haben einmal Wanderschuhe von mir verbrannt, welche in einem Päckli aus der Schweiz nach Tasmanien unterwegs waren, weil sie dreckig waren. Im Dreck könnte es Samen oder Pilzsporen aus Europa haben, die das Ökosystem von Australien gefährden könnten. International macht die Schifffahrt gerade einen riesigen Schritt voran, indem nun vorgeschrieben ist, dass Ballastwasser gefiltert werden muss, bevor es abgelassen wird. Über das Ballastwasser der Schiffe gelangten schon Hunderte von Arten von einem Weltmeer zum nächsten. In der Schweiz werden immerhin landwirtschaftliche Produkte aus dem Ausland an der internationalen Grenze am Flughafen Zürich auf Schädlinge überprüft. Findet man welche, dürfen die Produkte nicht eingeführt werden und werden in der Kehrrichtverbrennung vernichtet. Diese Ansätze sollten wir dringend auf internationaler Ebene weiterführen.
Lässt sich aus dem was Sie gesagt haben über Neophyten etwas lernen oder ableiten bezüglich der Integration von Wissen, Praktiken und Ressourcen in ein soziotechnisches Ökosystem?
Durch die menschgemachte Verschiebung von Arten werden sich Ökosysteme immer ähnlicher. Überall entsteht mit der Zeit derselbe Einheitsbrei. Einerseits verlieren wir dadurch viele Arten, andererseits ist das auch gefährlich. Denn wenn eine oder mehrere Arten ein Problem bekommen, beispielsweise durch Krankheiten, dann ist das Problem gleich global. Wenn ich aber verschiedene Ökosysteme mit ganz unterschiedlichen Artenzusammensetzungen habe, dann ist das globale Ökosystem viel resilienter. Das können wir für die Gesellschaft ableiten: Während der Corona-Krise haben wir gelernt und erfahren, wie anfällig unsere globale Welt ist. Wenn eine Fabrik in China stillsteht, hat das Auswirkungen bis zum Baumarkt in Frutigen, weil es plötzlich keine Hämmer und Schraubenzieher mehr geliefert werden. Was haben wir gemacht? Wir besannen uns auf die lokalen Hersteller und fragten uns: Wer stellt in der Schweiz noch Schraubenzieher her? Wer liefert noch Eier? Wer näht Masken? Wir besannen uns also auf unser lokales Ökosystem und erhielten so einen Teil unserer Resilienz zurück.
Ihre Aussage «durch die menschengemachte Verschiebung von Arten werden sich Ökosysteme immer ähnlicher» leuchtet auf den ersten Blick ein. Könnte es aber nicht so sein, dass wie Fred Pearce moniert, dass die Darwinsche Evolutionsmaschine hybride und neue Arten entstehen lässt und dass diese Hybridisierung neue evolutionäre Chancen eröffnet und damit der Homogenisierung der globalen Biodiversität entgegenwirken könnte?
Es ist richtig, dass durch Hybridisierung innerhalb einer Generation neue Arten – eben eine Hybride – entstehen können. Es gibt aber gleich mehrere Probleme hierbei. Eines ist die Fruchtbarkeit. Die meisten Hybride büssen diese ein. Das heisst, eine neue Art entsteht und geht gleich wieder unter. Daraus folgt, dass die Rate, mit der neue reproduktionsfähige Hybridarten entstehen, sehr langsam ist und nicht mit dem gegenwärtigen Verlust der Biodiversität mithalten kann. Dann ist es auch so, dass die Hybriden selber invasive Arten sein können. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Marmorkrebs, der eine Hybride von zwei Flusskrebsarten ist. Der Marmorkrebs ist in vielen Ländern invasiv, weil er die Fähigkeit hat, sich ohne Paarung zu vermehren. Die Population besteht vollständig aus Weibchen und die sind seit Geburt an trächtig. Die Geburtenraten dieser Spezies sprengen jeden Rahmen. Für die Ökosysteme ist so eine Art der reinste Horror.
Herr Bieri, wir möchten uns bei Ihnen ganz herzlich bedanken für Ihre interessanten Ausführungen zum Thema Neophyten und Ökosystem.
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