07. September 2022

Sichere Versorgung der Schweiz mit Strom: Notwendiger Anpassungsbedarf

Wolfgang Kröger - Energie

Gegenwärtige Situation

Im Jahr 2021 lag der Landesstromverbrauch bei 62,5 TWh, nach Abzug der Übertragungs- und Verteilverluste betrug der Endstromverbrauch 58,1 TWh – damit um 4,3% mehr als 2020 und lag somit leicht über dem Vor-Corona-Niveau 2019. Die Netto-Stromerzeugung sank auf fast 61,5 TWh, woraus ein Importüberschuss von 2,4 TWh resultierte. Die Wasserkraft trug rund 61,5% dazu bei, die Kernenergie 28,9%, die konventionell-thermischen und restlichen erneuerbaren Energieträger (wie Müll, Biomasse, Sonne und Wind) 9,6% [1]. Die für die Wasserkraft wichtigen Speicherseen haben bei vollständiger Füllung eine theoretische Kapazität von knapp 9 TWh. Nach Abzug der Mindestreserve stünden im Winter etwa 8 TWh zur Stromerzeugung zur Verfügung, erfahrungsgemäss knapp ein Viertel des Winter-Landesverbrauchs. Ihr Füllgrad lag Ende Juni 2022 bei saison-typischen 50% [2].

Bestandsaufnahme Gasversorgung und Gasmangel

Gas spielt für die Stromerzeugung in der Schweiz kaum eine Rolle, hatte aber einen Anteil am Endenergieverbrauch von 15,4%. Bei leichtem Rückgang des Pro-Kopf-Verbrauches ist der Anteil in den vergangenen Jahren stetig gewachsen, weil die Preise tief waren und Gas als umweltfreundlich galt, vor allem im Vergleich zum Öl. Rund 42% des Verbrauchs machten die Haushalte aus, 34% die Industrie und 22% Dienstleistungen; 80% des Gases werden im Winter verbraucht. Die Schweiz hat keine nennenswerte eigene Gasförderung und bezieht 3/4 der verbrauchten Gasmenge über Deutschland. 2021 hatte russisches Gas einen Anteil von 43% am Importmix [3].

Die Schweiz ist als Transitland in das internationale Fernleitungsnetz eingebunden. Die hiesige Transitleitung dient zu etwa 80% dem Gastransport nach Italien aus Frankreich und vor allem aus Deutschland, mit der Einspeise- und Messstation in Wallbach (AG); eine Turbinen-getriebenen Verdichterstation befindet sich in Ruswil (LU). Die verbleibenden 20% decken etwa 80% des jährlichen Gasverbrauchs in der Schweiz von 3,6 Mrd. m3; das in der Leitung gespeicherte Volumen liegt bei rund 15 Mio. m3. Die Transitleitung wird betrieben von der Transitgas AG, an der Swissgas einen Aktienanteil von 51% hat. Seit 2018 ermöglicht sie einen Gasfluss auch in umgekehrte Richtung («reverse-flow»), also von Süden nach Norden. Dies ist für die Schweiz ein «Trumpf» von strategischer Bedeutung und für Deutschland als Option von grossem Interesse, wenn russisches Gas durch Lieferungen über Italien aus Aserbaidschan, Nordafrika und zunehmend auch von Liquefied Natural Gas (LNG) kompensiert werden muss. Für den LNG-Antransport per Schiff sind vier Terminals in Italien bereits in Betrieb und ein zusätzliches ist im Bau (Die EU hat knapp 40 LNG-Terminals in Betrieb, davon 6 in Spanien, 4 in Frankreich und 4 in der Türkei; in den genannten Ländern einschliesslich Italien (1) und Deutschland (2) sind 9 weiter im Bau.).

Die Schweiz hat keine eigenen saisonalen Gasspeicher. Sie hat sich ersatzweise vertraglich an einen Gasspeicher in Frankreich gebunden (Etrez, nahe Lyon) zur Sicherung von 35% des Bedarfs im kommenden Winter. Die gasimportierenden Unternehmen müssen Pflichtlager für einen Bedarf von 4 ½ Monaten anlegen, tun dies in Form von Heizöl extra leicht. Dies hilft, Versorgungsengpässe vor allem für Haushalte als «geschützte Kunden» zu entschärfen. Viele zweistofffähige Anlagen (vor allem in der Industrie) können/sollen wieder von Gas auf Öl umgestellt werden. Die Gasspeicher in der EU sind (Stand 24.8.2022) zu rund 75% gefüllt, zu über einem Zehntel mehr als zur gleichen Zeit im Vorjahr. Die Gasspeicher in Frankreich sind sogar zu knapp über 90% und Deutschland zu knapp über 81% gefüllt [4]. Deutschland hatte vor dem Angriff auf die Ukraine und unbeeinträchtigten Gaslieferungen aus Russland einem Gasanteil an der Stromerzeugung von knapp 13% und an der Versorgung mit Primärenergie von 27%; es strebt nun für Anfang November einen Füllgrad seiner Speicher von 95% an. Um dieses Ziel zu erreichen, könnten gemäss Bundesnetzagentur bei «Lieferungen auf niedrigem Niveau (aus Russland) Gasweitergaben an andere Länder betroffen sein» [5].

Fehlende institutionelle Abkommen als Herausforderung bei Gas und Strom

Die Schweiz ist also bei der Gasversorgung in das europäische (ENTSO-G) Netz mit gegenseitigen Abhängigkeiten und jeweils eigenen Interessen eingebunden. Verhandlungen laufen derzeit mit Nachbarländern über Solidaritätsabkommen, so auch mit Deutschland, drohen aber zu scheitern, weil ein übergeordnetes Rahmenabkommen mit der EU fehlt und in weite Ferne gerückt scheint.

Auch bei der Stromversorgung ist die Schweiz mit 41 grenzüberschreitenden Leitungen ein wesentlicher Teil des europäischen Netzes, allerdings begrenzen Netzengpässe im Inland und Ausland die Austauschkapazität [6]. Das synchronisierte (ENTSO-E) Netz versorgt 530 Millionen Menschen und erstreckt sich auf 30 Länder. Dazu gehören jetzt auch die Ukraine und Moldawien, die zum Schutz des europäischen Netzes abgetrennt werden können, falls dies – etwa kriegsbedingt – erforderlich sein sollte. Auch für den Stromaustausch mit den Nachbarländern fehlt der Schweiz ein entsprechendes Abkommen, es liegt auf Eis. Offen ist, ob Bemühungen um bilaterale Vereinbarungen zwischen Vertragspartnern zum Erfolg führen und Abhilfe schaffen können.

Kommt ein Stromabkommen nicht zustande, wirkt sich das sowohl auf die Netzstabilität als auch auf die Importfähigkeit negativ aus. Wie beim Gas hat die Schweiz auch beim Strom nur einen Beobachterstatus, aus dem heraus sie nicht aktiv an der immer dynamischer werdenden Stromkapazitätsvergabe teilnehmen kann. Solange dies der Fall ist, ist mit einer Zunahme ungeplanter Stromflüsse durch das Land zu rechnen, mit teilweiser und zeitweiser Überlastung des eigenen Netzes zur Folge. Swissgrid muss dann als Netzbetreiber in den Systembetrieb per nationalem oder internationalem «Dispatch» eingreifen, um das Netz stabil zu halten, was herausfordernd ist und meist hohe Kosten erfordert. Es ist bekannt, dass das Stromnetz immer häufiger an seinen Grenzen betrieben wird, gefährliche Verstösse gegen sog. N-1 Sicherheitskriterien (Das N-1 Kriterium fordert, dass ein Element des Netzwerkes, bspw. eine Leitung, ungeplant versagen kann und die aktiven verbliebenen Elemente in der Lage sein müssen, die geänderten Stromflüsse zu verkraften, ohne Abschaltkaskaden oder signifikante Verbrauchseinschränkungen auszulösen.) nehmen zu [7]. Ebenso steigt die Wahrscheinlichkeit grossflächiger und länger andauernder Blackouts. Jüngste Beispiele betrafen am 15. November 2019 die Westschweiz mit Problemen im Übertragungsnetz, verursacht durch hohen Importbedarf von Frankreich, und eine Aufteilung des europäischen Netzes am 8. Januar 2021, nach einer Störung in einem Unterwerk in Kroatien.

Mit Blick auf eine mögliche Strommangellage infolge fehlender Importe ist die neue EU-Regel wichtig, nach der die EU-Länder 70% der grenzüberschreitenden Kapazität für den Handel unter EU-Mitgliedsstaaten reservieren müssen, und zwar spätestens ab 2025. Damit droht die Gefahr, dass die Schweiz – vor allem in den Wintermonaten – deutlich weniger Strom importieren kann als sich jetzt schon abzeichnend und künftig verstärkt (ab 2035 [7]) nötig wäre. Erst recht ohne Vereinbarungen mit der EU auf höchster Ebene ist es zudem äusserst fraglich, ob Nachbarländer willens sind, aus Solidarität Strom zu liefern, wenn sie selbst in einer Krise stecken, höchstwahrscheinlich selbst von einer Strommangellage betroffen sind.

Schweizer Energieunternehmen haben in den vergangenen Jahren beträchtlich in den Ausbau erneuerbarer Energien, vor allem in Windparks, im Ausland investiert; die Jahresproduktion wird gemäss einer Erhebung von «Energie Zukunft Schweiz» auf 10,5 TWh geschätzt. Unter der neuen 70%-Regelung scheint die sichere Versorgung der Schweiz allerdings nur durch Investitionen in den Ausbau im Inland gewährleistet. Dieser ist derzeit allerdings (noch) durch langwierige Einspracheprozesse und fehlende Leitungen stark behindert.

Energiegesetz und Energieperspektiven

Die aktuelle Studie eines Konsortiums aus Prognos, Infras und Ecoplan im Auftrag des BFE zu Energieperspektiven 2050+ [8] geht über das Energiegesetz von Januar 2018 hinaus und zeigt auf, ob und wie das Schweizer Energiesystem spätestens im Jahr 2050 klimaneutral sein kann, d.h. «netto-null» CO2-Emissionen (Netto-null bedeutet, dass verbleibende Emissionen kompensiert werden müssen durch Entnahme eines entsprechenden Betrages aus der Atmosphäre über natürliche oder ingenieurmässige Lösungen.) aufweist. Ausserdem soll die Versorgungssicherheit auch bei Ausstieg aus der Kernenergie, möglichst ohne Stromimporte und ohne Nutzung fossiler Energien gewährleistet werden. Der Austausch mit dem Ausland bleibt wichtige Stütze des Energiesystems; die Abhängigkeit der Schweiz von Primärenergieimporten nimmt ab. Die Studie geht davon aus, dass alle europäischen Länder eine drastische Reduzierung der CO2-Emissionen anstreben und eingegangene Verpflichtungen wahren.

Folgende wesentliche Grundannahmen der Studie [8] zeigen Herausforderungen und mögliche Fehleinschätzungen:

  • Die Schweiz bleibt eingebettet in europäische Netze, Export- und Importmöglichkeiten sind garantiert.
  • Die benötigten Technologien sind verfügbar (keine Wundertechnologien angenommen) oder müssen/können in den nächsten 30 Jahren bereitgestellt und eingesetzt werden. Dazu zählen Carbon Capture and Sequestration (CCS) und Negative Emission Technologies (NET), die zur Kompensation von Restemissionen erst ab 2035 als kommerziell verfügbar gelten. Die CO2-Speicherung ist auf Lagerkapazitäten im Ausland angewiesen.
  • Entgegen der bisherigen Annahme im Energiegesetz wird ein Anstieg des Stromverbrauchs prognostiziert, und zwar bis 2050 um 11% gegenüber 2018.
  • Anstieg des heimischen Investitionsbedarfs bis 2050 von ohnehin 1400 Mrd. um 109 Mrd. Franken für «netto-null», woraus ein Betrag von jährlich mehr als 50 Mrd. Franken resultiert, der (im Vergleich zum BIP, bspw. 709 Mrd. 2020) als «machbar» gilt.

Einschätzungen zukünftiger Strombedarf, gesicherter Stromaustausch

Allgemein wird prognostiziert, dass der Primärenergieverbrauch trotz steigender Einwohnerzahlen und Bedürfnisse nicht zu-, sondern abnimmt. Grund dafür ist der unterstellte reduzierte Pro-Kopf-Verbrauch angesichts stark zunehmender Energieeffizienz, u.a. bei Gebäuden, infolge höherer Wirkungsgrade elektrischer Antriebe und der Elektrifizierung allgemein.

Hingegen schwanken die Zahlen für den zukünftigen Elektrizitätsbedarf: Die Abstimmungsvorlage zum Energiegesetz ging noch optimistisch von einer Abnahme aus. Neuere Arbeiten weisen jedoch Anstiege aus infolge der angestrebten zunehmenden Stromnutzung in neuen Bereichen vor allem bei der Mobilität (E-Autos), Heizung und Kühlung von Gebäuden (Wärmepumpen) sowie zur Deckung des Energiebedarfs fortschreitender Digitalisierung. Lagen die Schätzwerte bis 2050 laut [8] bei «nur» 11%, so betragen sie gemäss anderer Studien mit unterschiedlichen Modellannahmen und Eingangsdaten bis zu über 50% («a+ Studie» [9]) oder für OECD-Länder gar 100% (OECD-IEA). Dieser Parameter ist für die zu gewährleistende Versorgungssicherheit und zu wählende Strategie von ausschlaggebender Bedeutung und muss für die Schweiz samt den getroffenen Annahmen auf den Prüfstand, unter Berücksichtigung von Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Die Annahme, dass Importmöglichkeiten für Strom trotz sich abzeichnenden Importbedarfs vieler Länder in Zukunft gesichert sind, läuft auf eine «Stromimportstrategie» hinaus, die höchst fragwürdig und riskant ist.

Beurteilung von Technologien, ihrer Verfügbarkeiten und Nutzung

Die Energieperspektiven 2050+ [8] setzen auf einen Mix aus Wasserkraft und anderen erneuerbaren Energieträgern wie Wind und – vor allem – Photovoltaik samt der Verfügbarkeit benötigter saisonaler und tageszeitlicher Speichertechnologien sowie adäquater Transportinfrastrukturen. Hinzu kommen gasbefeuerte Reservekraftwerke und der Stromaustausch mit dem Ausland sowie CCS und NET zur Kompensation unvermeidbarer CO2-Restemissionen. Während einige Technologien kommerzielle Reife und Wirtschaftlichkeit erlangt haben, sind andere in kleinskaliger Demonstrationsphase (Wasserstoffproduktion und -transport) oder gar erst im experimentellen Stadium (wie Power-to-X, NET, synthetische Brennstoffe). Daraus resultieren erhebliche Unsicherheiten und Gefahren für das Energiesystem in der Zukunft.

Neben einer sorgfältigen Sensitivitätsanalyse fehlen umfassende Betrachtungen zu gesicherten benötigten Ressourcen (wie ausreichende Rohstoffe für Batterien bei Marktdurchdringung der E-Autos [10]) und zu Importabhängigkeiten (für «Commodities» wie Windräder und PV-Panels).

Obwohl Technologieneutralität angestrebt wird, fällt auf, dass Technologien, die dem derzeitigen Mainstream entsprechen eher wohlwollend behandelt werden, dem «Wunschdenken» nahekommen; ungeliebte Technologien wie die Kernenergie hingegen entweder nicht umfassend oder eher abwertend abgehandelt werden. Eine offene Diskussion müsste frei von Tabus alle Technologien einschliesslich moderner Kerntechnik mit all ihren faktischen Stärken und Schwächen einbeziehen. Es sollte darum gehen, ein optimiertes System mit einem Höchstmass an Diversität und damit an Versorgungssicherheit zu erreichen und den erheblichen Unsicherheiten und Unwägbarkeiten zu begegnen.

Nicht alles, was nützlich zu sein scheint und verfügbar ist, wird auch konsequent genutzt. So ist die Geschwindigkeit, mit der PV-Anlagen und auch Windfarmen derzeit zugebaut werden, bei weitem zu gering, müsste dauerhaft verfünffacht werden, um mit dem steigenden Bedarf an «grünem Strom» Schritt zu halten. Gleiches gilt für den Ausbau zugehöriger Speichermöglichkeiten, benötigter Höchstspannungsleitungen wie aus dem Wallis ins Mittelland und den Ausbau anderer Infrastrukturelemente, die zur Entschärfung der Netzregelungsproblematik ohne rotierende Massen zur Frequenzstabilisierung beitragen. Gründe dafür, dass der benötigte Ausbau in vielen Ländern stockt, sind mannigfach; dazu zählen Aspekte des Landschafts- und Naturschutzes, Partikulärinteressen, langwierige juristische Verfahren und neuerdings Material- und Fachkräftemangel.

Was ist zu tun, um die Versorgungssicherheit auch längerfristig zu stärken?

Die unerwarteten Vorgänge der jüngsten Vergangenheit zwingen zu einer Überprüfung der Eckpfeiler unserer Energiestrategie und deren Anpassung an neue Gegebenheiten und eine verschobene Perspektive; Klimaschutz, lange Zeit unumstrittenes, jetzt oft zurückgestelltes übergeordnetes Ziel, muss mit der Versorgungssicherheit unter einen Hut gebracht werden. Eine Balance ist zu finden zwischen dem Wünschenswerten und dem Machbaren, zwischen Verharmlosung und Panikmache. So ist bspw. die Bedeutung russischen Gases für unsere Energieversorgung nicht zu unterschätzen, aber wegen seines geringen Anteils auch nicht zu überschätzen; für die einheimische Stromproduktion spielt es – wie dargelegt – praktisch keine Rolle, allerdings sind europaweite Stromengpässe zu beachten. Dementsprechend ist die Übernahme des 15%igen Sparziels nicht nur aus Gründen der Solidarität sinnvoll. Nüchternes Abwägen sollte das Gebot der Stunde sein; das finanziell-ökonomisch «Sich-leisten-können» muss wieder stärker bedacht werden.

Alle Möglichkeiten, in diesem Winter und danach auch längerfristig Energie/Strom deutlich einzusparen und effizienter zu nutzen, sind verstärkt auszuschöpfen und durch realistische Zielvorgaben, bspw. beim Gasverbrauch, zu ergänzen. Dabei spielen in der Schweiz die privaten Haushalte als Zielsektor eine dominierende Rolle, gefolgt von der Industrie und Dienstleitungen. Die Haushalte allein benötigten im letzten Jahr 42% des Gasverbrauchs hauptsächlich für Heizung und Warmwasser und 35% des Stromverbrauchs, zur Hälfte für den Betrieb von Grossgeräten und zu fast einem Viertel von elektronischen Geräten und zur Datenübertragung. Einsparungen sollten leicht machbar und verkraftbar sein. Wie dies im Detail geschehen kann, sind Andere («Bodennähere») wie Energieversorger, Verbände und Ämter, befugter, nachzudenken und Vorschläge zu unterbreiten (siehe auch [11]).

Szenarien möglicher Zukunft mit variierenden Annahmen bei Schlüsselfaktoren sind von der Politik zu entwickeln und in ihrer Komplexität massvoll zu berücksichtigen. Das ist sicher schwierig, aber die meistpraktizierte blosse Fortschreibung heutiger stabiler Verhältnisse und Rahmenbedingungen über Jahrzehnte (2020–2050) reicht nicht aus, ist zu kurzsichtig, erfahrungsgemäss zu riskant gedacht. Sie sollten mit dem Netto-Null-Ziel kompatibel sein.

Besondere Anstrengungen der Politik sind erforderlich zur raschen Wiederherstellung der Zusammenarbeit in Netzwerken mit europäischen Ländern bzw. der EU. Neben dem Forschungs- und Bildungssektor muss insbesondere im Energiesektor alles getan werden, um die Einbettung der Schweiz in internationale Abmachungen und den Austausch mit dem umgebenden Ausland zu sichern. Dennoch ist vorsorglich nicht davon auszugehen, dass dies auch gelingt. Die heimische Stromproduktion ist zu steigern, möglichst ohne zusätzliche CO2-Emissionen zu verursachen. Deshalb, und auch wegen neuer Importabhängigkeiten, sollte Gas – erst recht Öl – als Brennstoff für (Backup-)Kraftwerke nicht oder nur für den Notfall sehr begrenzt in Frage kommen, selbst wenn diese Kraftwerke schnell realisierbar, flexibel einsetzbar und technisch ausgereift sind und zudem recht hohe Wirkungsgrade aufweisen.

Der Ausbau der erneuerbaren Energieträger, insbesondere der Photovoltaik auf und an Gebäuden, ist ungenügend und trotz aller Schwierigkeiten (erheblicher Flächenbedarf, Akzeptanzprobleme, Wahrung rechtlicher Grundlagen) zu forcieren. Mit gebotener Klarheit ist entsprechende Überzeugungsarbeit zu leisten, Governance-Prozesse und neue Beteiligungsmodelle (bspw. «Prosumer» Genossenschaften) sind zu entwickeln und zu implementieren. Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen insbesondere bei Speichertechnologien und alternativen Brennstoffen sind zu intensivieren.

Der sichere, störungsfreie Weiterbetrieb der bestehenden Kernkraftwerke ist zu gewähr-leisten. Der Langfristbetrieb über die bisher unterstellte Betriebsdauer von 50 Jahren hinaus sollte als Option geprüft werden. Die Meinung, zur Erzeugung «grünen Stroms» bestehe für neue Atomkraftwerke kein Bedarf, ist aus längerfristiger Perspektive zu überdenken. Energiestrategien anderer Länder wie Frankreich, die USA und China stehen dazu im Wider-spruch. Neben weiterentwickelten Konzepten der heute verfügbaren «Generation III/III+» setzen sie längerfristig auch auf neue Reaktorkonzepte einschliesslich «super-sicherer», modular aufgebauter Reaktoren kleiner bis mittlerer Leistung, sog. SMR [12]. Die Realisierung eines Neubauprojektes in der Schweiz ist ambitioniert und anspruchsvoll. Sie setzt die Verfügbarkeit eines passenden Konzeptes und fähigen Industriepartners samt benötigter Fachkräfte voraus, vor allem aber den entsprechenden gesellschaftlich-politischen Willen und die Investitionsbereitschaft der Elektrizitätswirtschaft und Geldgeber. Unter diesen Voraussetzungen scheint aus technischer Sicht eine Realisierungsdauer von geschätzt 16 bis max. 20 Jahren (Getroffene Annahmen: Aufhebung Neubauverbot durch Parlamentsbeschluss 2 Jahre, Rahmenbewillgung 4 Jahre nach Projektstart, Referendum 2 Jahre, Baubeginn also 8 Jahre nach Projektstart (Kiener – persönliche Mitteilung) und Baudauer 8 bis 10 Jahre (Adaption von Angaben für chinesische Neubauprojekte)) durchaus machbar.

 

Referenzen

[1] BFE Schweizerische Elektrizitätsstatistik 2021
https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/statistik-und-geodaten/energiestatistiken/elektrizitaetsstatistik.exturl.html/aHR0cHM6Ly9wdWJkYi5iZmUuYWRtaW4uY2gvZGUvcHVibGljYX/Rpb24vZG93bmxvYWQvMTA5NDI=.html

[2] Füllungsgrad der Speicherseen 2022, Sonntag 24h, Wochenbericht Speicherinhalt (PDF, 724 KB, 29.08.2022) ID: https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/statistik-und-geodaten/energiestatistiken/elektrizitaetsstatistik.html/#:~:text=F%C3%BCllungsgrad%20der%20Speicherseen%202022,724%20KB%2C%2029.08.2022)%20ID%3A

[3] Herkunft Gasimporte 2021, Verband der Schweizerischen Gasindustrie
https://gazenergie.ch/de/wissen/detail/knowledge-topic/3-herkunft/

[4] https://agsi.gie.eu/ (Stand: Stand 24.8.2022)

[5] Lagebericht Gasversorgung Stand: 29.06.2022 (12 Uhr), Bundesnetzagentur https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Fachthemen/ElektrizitaetundGas/Versorgungssicherheit/aktuelle_gasversorgung/_downloads/06_Juni_22/220629_gaslage.pdf?__blob=publicationFile&v=3

[6] ElCom System Adequacy 2030, 6/2020
https://www.elcom.admin.ch/dam/elcom/de/dokumente/2020/schlussberichtelcomsystemadequacy2030.pdf.download.pdf/Schlussbericht%20ElCom%20System%20Adequacy%202030.pdf

[7] Stromversorgungssicherheit der Schweiz 2020, Bericht der ElCom,7/2020
https://www.elcom.admin.ch/dam/elcom/de/dokumente/2020/stromversorgungssicherheitderschweiz2020.pdf.download.pdf/Stromversorgungssicherheit%20der%20Schweiz%202020.pdf

[8] BFE Energieperspektiven 2050+, Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, 11/2020
https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/politik/energieperspektiven-2050-plus.html

[9] Extended Energy Commission of the Swiss Academies of Arts and Sciences, Transition path to a net-zero-CO2-Swiss energy system in 2050, 7/2022
https://portal-cdn.scnat.ch/asset/b0047e00-7b19-5e8d-8eb8-57a1778983be/170822_REPORT_Energie_Kurzfassung_D_web.pdf?b=48245d16-51d1-5b90-a14b-fac995bc754e&v=54c811ad-8e61-5b12-a697-44532a112b4b_0&s=IMLx3wimK56A3SKcnwIXasm3mTrOkDgdl1a8vmVHydOMi16r5bAZ4mOlXZmHnQEYitCAREC1B5MhvihiGrtvTxpjaguH-7xo0-nlnxeHwjQQTOuysVjXXeIr-e2lMOkqlusgQVytPrjYFanbTMfREUH7xvm6kuwanAcW0xgR40o

[10] Assessment of the Extra Capacity Required of Alternative Energy Electrical Power Systems to Completely Replace Fossil Fuels, Geological Survey of Finland, 2021. https://tupa.gtk.fi/raportti/arkisto/42_2021.pdf

[11] ETH/ESC, Positionspapier Schritte zur fossilen Unabhängigkeit für die Schweiz, 7/2022
https://esc.ethz.ch/expert-groups/security-of-supply.html

[12] W. Kröger, Novel Reactor Concepts: Asset in a Future De-carbonized Electricity Mix, SPS Focus No. 1, July 2021
https://www.sps.ch/fileadmin/doc/Focus/Focus.1_Web.pdf

Der Autor des Beitrags ist SATW-Mitglied und emeritierter Professor für Nuklearphysik und Risikoanalyse an der ETH Zürich. Die SATW übernimmt keine Verantwortung für den Inhalt von Meinungsbeiträgen. Diese liegt allein beim Autor.

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