12. November 2020

Die Covid-19-App – ein Public Health Wearable?

Walter Karlen - Digitalisierung

«Wearables» wie Fitness- und Schlaftracker werden heute vor allem als Consumer-Produkte verwendet. «Medical Wearables» haben das Potenzial, Diagnostik und Überwachung auch in der Medizin grundsätzlich zu verändern, sofern es gelingt, diese in klinische Abläufe zu integrieren. Wird das Smartphone mit der Covid-19-App zu einem «Public Health Wearable»?

«Medical Wearables» sind Geräte, die am Körper getragen werden und mit dem Smartphone oder dem Internet verbunden sind und so eine kontinuierliche Überwachung von einzelnen Gesundheitsparametern ermöglichen. So verfügen heutige Smartphones über eine Schrittzählerfunktion. Einzelne Krankenversicherungen geben ihren Versicherten gar einen Rabatt für jeden Tag, an dem sie mehr als 10’000 Schritte gehen. «Medical Wearables» oder ihre verwandten Gadgets aus dem Consumer-Segment kennen viele aus dem Sport. So nutzen Sportlerinnen und Sportler schon länger Geräte, mit denen sie ihre Trainings aufzeichnen, um ihre Leistung und Erholung zu messen. Tatsächlich können aber mit ähnlichen Geräten auch Blutdruck, Puls und das Schlafverhalten gemessen und gespeichert werden. In jüngster Zeit zeichnen sich Anwendungen ab, die immer näher an der Medizin sind.

Zwei Hauptgruppen – eine Herausforderung

Meist werden zwei Gruppen von «Medical Wearables» unterschieden. Zum einen sind das diagnostische Geräte, die eher kurzfristig zur Erstellung einer Diagnose eingesetzt werden. Zum anderen gibt es solche, die zur Überwachung von bestimmten Parametern über einen viel längeren Zeitraum genutzt werden, etwa für das Management einer chronischen Krankheit. Der häufigste Einsatz im medizinischen Bereich ist das Remote Monitoring. Das sind Anwendungen, mit denen der Patient oder die Patientin Messsysteme mit nachhause nimmt, um sich selbst den Blutzucker zu messen oder Atmungstests durchzuführen. Die Resultate werden dann zur Selbstbehandlung (etwa mittels Insulin) verwendet oder zur telemedizinischen Interpretation an den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin weitergeleitet. Jens Krauss vom CSEM berichtete kürzlich von einem Demonstrationsprojekt, indem gezeigt wird, wie tragbare medizinische Geräte zur Fernüberwachung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten eingesetzt werden.

«Medical Wearables» versprechen das Gesundheitssystem zu demokratisieren und teure Untersuchungen durch kostengünstigere, kontinuierliche Messungen zu ersetzen. Eine der zentralen Herausforderungen ist, dass diese Geräte Unmengen an sehr sensiblen Daten produzieren, die nach den entsprechenden Datenschutz-Standards übermittelt, gespeichert und analysiert werden müssen. Die rein private Nutzung, bei welcher der Patient oder die Patientin für die Daten verantwortlich bleibt, ist das Eine. Die viel grössere Herausforderung aber ist es, diese Daten in den klinischen Kontext einzubeziehen, zumal das medizinische Personal oft nicht geschult ist, wie mit solchen Daten sicher umzugehen ist. So muss beständig beurteilt werden, ob die Daten vertrauenswürdig und zuverlässig sind. Und sie müssen sicher verwaltet werden. Entsprechend braucht es noch einiges an Forschung und Entwicklung, um diese Geräte in den klinischen Prozess einzubinden.

Verschwimmende Grenzen, neue Anwendungsfelder

Durch den zunehmenden Einsatz von Big Data ergeben sich unter Umständen weitere Anwendungen, die heute noch gar nicht absehbar sind. Allenfalls liesse sich vom Einkaufsverhalten ableiten, ob jemand akut unter Depressionen leidet. Gleichzeitig lässt sich ein Verschmelzen von medizinischen und nichtmedizinischen Anwendungen beobachten. Durch das Messen von Parametern erschliessen sich in Zukunft womöglich noch weitere Zusammenhänge: Wer hätte vor der Covid-19-Pandemie gedacht, dass das Messen von Kontakten und ihrer Dauer zu einer medizinischen oder genauer zum zentralen Datenpunkt einer Public-Health-Anwendung werden könnte? Genau das aber tut die Covid-19-App, indem sie Kontakte, bei denen potenziell eine Ansteckung stattgefunden haben könnte anonym und ohne Aufwand aufzeichnet. So wird das Smartphone zu einem Wearable, das einen Beitrag zur Pandemiebewältigung leistet.

Die Covid-19-App macht deutlich, was auch für Medical Wearables im Allgemeinen gilt. Die Knacknuss besteht oft nicht so sehr in der Entwicklung einer technischen Lösung für ein spezifisches Problem, sondern in der Integration dieser Technologie in gesellschaftliche und soziale Kontexte. So wie es sich als schwierig erwiesen hat, genügend Menschen vom Nutzen der Covid-19-App zu überzeugen und die in Windeseile entwickelte App effizient in das klassische Contact-Tracing einzubinden, so werden auch die medizinischen Wearables unser Gesundheitssystem vor Herausforderungen stellen, vielleicht auch – und gerade weil – die Erwartungen hoch sind.

Walter Karlen

Zur Person

Walter Karlen studierte Mikrotechnik und promovierte in Informatik, Kommunikation und Informationswissenschaften an der EPFL. Danach forschte er an der Universität Stellenbosch, Südafrika, sowie an der University of British Columbia (UBC) in Vancouver, Kanada. 2014 trat er eine durch den Schweizer Nationalfond geförderte Professur an der ETH Zürich an und gründete das Labor für Mobile Gesundheitssysteme. Walter Karlen ist spezialisiert auf tragbare und autonome medizinische Systeme, wofür er intelligente Algorithmen für die automatisierte Analyse von biomedizischen Signalen entwickelt. An der ETH Zürich hat er unter anderem Wearables zur patientennahen Beurteilung von Schlaf, Lungenentzündung, Rückenschmerzen und Dengue Fieber erforscht. Er ist engagierter Sprecher und Gutachter zum Thema Wearables und Big Data in der Medizin. Er ist Co-leiter des Hochschulmedizin Zürich Flagship Projekt «SleepLoop» (www.sleeploop.ch) und Mitgründer der Schweizer Startup Tosoo AG, welche Medical Wearables zur Behandlung von Parkinson-Patienten entwickelt

Walter Karlen ist auch Autor für den Technology Outlook 2021, der im kommenden Frühjahr zum vierten Mal erscheinen wird. Der Technology Outlook ist der Früherkennungsbericht der SATW, der neue disruptive Technologien präsentiert und deren Kompetenz in der Schweiz sowie deren volkswirtschaftliche Bedeutung bewertet. Bestellen Sie schon heute Ihr Exemplar des Technology Outlooks 2021 - als PDF oder in gedruckter Form.

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